Sammlung

Marientod (Relief)

Künstler/in
Veit Stoß d. Ä.
Entstehung
Nürnberg
Datierung
nach 1523
Material
Lindenholz, bemalt (teilweise), vergoldet (teilweise)
Maße
Relief: H. 55 cm, B. 32 cm, T. 8 cm; Rahmenkasten: H. 63,5 cm, B. 40,5 cm, T. 10 cm
Standort
Bayerisches Nationalmuseum (Saal 17)
Inventarnummer
L 2004/268
Bezug
Zugang
Unbefristete Leihannahme 2004, Kunstsammlung Rudolf August Oetker GmbH, Aus der Sammlung des Hauses Wettin (Albertinische Linie)

Aus dem späten Mittelalter haben sich weit über fünfzig geschnitzte Jesuskinder erhalten, vor allem aus Schwaben, aber auch aus Franken, Altbayern, Nordwestdeutschland und den Niederlanden. Viele davon wurden erst in neuerer Zeit bekannt, darunter auch der heute wohl berühmteste Vertreter der Gattung, der Münchener Christusknabe mit der Weintraube. Er konnte 1991 mit Unterstützung des Freundeskreises für das Bayerische Nationalmuseum erworben werden. Die Figur galt lange als Werk des bedeutendsten Bildhauers im Deutschland der 1460er Jahre, Niclaus Gerhaerts van Leyden. Auf der diesem Künstler vom Frankfurter Liebieghaus gewidmeten Ausstellung wurde das Bildwerk 2011 jedoch der Ulmer Kunst zugeordnet. Dabei berief man sich vor allem auf die Fassung, ferner aber auf den verwendeten Werkstoff, Weidenholz, und auf die Tatsache, dass verschiedene Elemente separat angestückt sind, während Niclaus seine Figuren aus einem Werkblock zu schnitzen pflegte. In der Tat steht das Werk auch in der Großzügigkeit der Konzeption hinter den Arbeiten des Niclaus zurück, während der Knabe gleichzeitig alle anderen heute bekannten Jesuskindfiguren in der sorgfältig beobachteten Bewegung und in der lebensvollen Schilderung des Kinderkörpers übertrifft. Kürzlich hat das Metropolitan Museum of Art einen weiteren Christusknaben mit Ulmer Fassung erworben. Er bietet erstmals eine enge Parallele für die Bearbeitung der Standfläche der Münchener Figur (Abb. 1a-b). Ein bislang kaum beachteter Knabe in Mindelheimer Klosterbesitz schließlich fällt in der Proportionierung noch natürlicher aus als die Münchener Skulptur (Abb. 2a-d). Er dürfte erst kurz vor der Reformationszeit entstanden sein, mit der die Produktion derartiger Bildwerke ein vorläufiges Ende fand. Erst im Barock sollte sie erneut im größeren Umfang aufleben - häufig wiederum im Kontext von Frauenklöstern. Christusfiguren wurden den jungen Frauen beim Eintritt ins Kloster als Mitgift mitgegeben, die schönsten haben die Ordensschwestern über Jahrhunderte aufbewahrt und verehrt (Abb. 3). Auch wenn viele der Bildwerke später bekleidet wurden, geben schon die frühesten einschlägigen Arbeiten den Jesusknaben nackt wieder (Abb. 4a-b). Die Nacktheit unterstreicht, dass Gott in Jesus ganz Mensch geworden ist - wie wichtig das Thema den Zeitgenossen war, führt im Bayerischen Nationalmuseum gleich nebenan die Madonna des Freisinger Hochaltars vor Augen (Abb. 5). Erst später hat man die Nacktheit als unschicklich empfunden. Bei vielen Bildwerken wurde das Genital nachträglich verstümmelt. Auf der anderen Seite stehen die vergoldeten Haare der Figuren für die göttliche Natur des Kindes. Auch die den Christuskindern beigegebenen Attribute wirken nur vordergründig anekdotisch. Weintrauben verweisen auf die Eucharistie und den Kreuzestod, Vögel auf die Passion, ein Apfel auf die Erbsünde, die durch Christi Erlösungstat überwunden wird. Wieder andere Kinder zeigen Christus als Weltenherrscher oder lassen ihn sein Herz darbieten, das am Kreuz durchbohrt wurde. Bei einigen Kindern sind die ursprünglichen Attribute verloren oder modern ergänzt. So dürfte der Mindelheimer Knabe wie der Münchener in der Linken eine Traube, in der Rechten eine einzelne Beere präsentiert haben. Analoges beobachtet man bei einem Christuskind in Darmstadt, das zugleich wiederum mit einer ähnlich gestalteten Sockelplatte aufwartet (Abb. 6a-d). Man kennt das Attribut der Weintraube zuvor schon von mehreren Jesusknaben aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts (Abb. 7). Im Rahmen des Kunstwerks des Monats wird der Knabe mit der Weintraube vergleichend den spätmittelalterlichen Jesuskindern der Münchener Sammlung gegenübergestellt. Während alle eine im Grundsatz ähnliche Proportionierung mit überlangem Oberkörper aufweisen, ist die Bewegung bei einigen Bildwerken stark zurückgenommen, was eine Bekleidung der Figuren naturgemäß sehr erleichtert hat. Allen Stücken gemeinsam ist jedoch, dass sie mit hohem schnitzerischen Raffinement um eine möglichst präzise Wiedergabe des kindlichen Körpers bemüht sind. So sind bei allen vier Christuskindern die Brustwarzen separat geschnitzt und eingesetzt. Bei dem 1974 erworbenen Kind sind ferner die Augen separat gefertigt, heute in Holz, ursprünglich wohl in einem anderen Material. Beim selben Kind sind zahlreiche Falten nicht geschnitzt, sondern in die dicke Grundiermasse eingraviert - ein Beleg mehr, wie sehr auch die Fassung der Figuren zur Wirklichkeitsillusion beiträgt. Die barocken Formulierungen des Themas vertritt ein Augsburger Christusknabe aus Privatbesitz. Er bekrönt eine Uhr und führt Christus so in einer weiteren Dimension vor Augen, als Herren der Zeit. Die Figur ist auf beidseitige Ansicht berechnet. Auf der Vorderseite des Gehäuses mit dem Uhrwerk (Abb. 8) ist das Zifferblatt für die Schlagfolge angebracht, auf der Rückseite das Zifferblatt für die Zeitanzeige. Beide Zifferblätter sind in fein gravierte, durchbrochene Appliken eingelassen. Die Uhr mit ihrem Stundenschlagwerk auf Glocke ist bis heute gangbar gehalten. Läuft die Uhr, so bewegen sich die Pupillen mit der Bewegung der Radunrast, wie man es ähnlich bei großen Uhren beobachtet, etwa bei der Sonne in der Uhr im Lübecker Dom (Abb. 9). Mit dem Finger verweist der Knabe auf Zeit und Ewigkeit: Die Weltkugel, die Jesus in seiner Linken hält, zeigt zugleich die Stunden an./We/2012

BV002596995
Zum Objekt: Jahresbericht Bayerisches Nationalmuseum München 2004-2005, Renate Eikelmann (Hrsg.), München 2007, S. 36 f., Abb. S. 36

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